Nachruf für Pearl Good

Nachruf für Pearl Good 
(15. August 1929 – 31. Oktober 2022)

Die Darmstädter Geschichtswerkstatt trauert um Pearl Good, die am31. Oktober im hohen Alter von 93 Jahren in Kalifornien im Kreis ihrer Familie friedlich gestorben ist. Sie ist nun ihrem Mann, William (Bill) Good, nachgefolgt, der ihr 2020 vorausgegangen ist. Es war Pearl Good, die 1999 bei einem Besuch in ihrem Geburtsort Vilnius/Litauen auf eine Frage ihres Sohnes Michael Good: Wem verdankst Du eigentlich Dein Überleben? den Namen Major Plagge nannte, mehr wisse sie nicht. Damals war Michael Good mit seinen Eltern auf den Spuren seiner Herkunft nach Litauen gereist und seine Mutter Pearl erinnerte sich beim Besuch des ehemaligen Wohnlagers in der Subocstraße in Vilnius an den Namen ihres Lebensretters, den damaligen Major Karl Plagge aus Darmstadt. 

Pearl Good geb. Perella Esterowicz wurde 1929 in Wilna, damals Polen (heute litauische Hauptstadt Vilnius), geboren und wuchs als einziges Kind von Ida und Samuel Esterowicz in einer bürgerlichen jüdischen Familie auf. Ihre behütete Kindheit wurde durch den deutschen Einmarsch in die damalige Sowjetrepublik Litauen im Juni 1941 jäh beendet. Sie wurde mit ihrer Familie – wie die gesamte jüdische Bevölkerung Wilnas– in ein völlig überfülltes Ghetto gesperrt. Ihr Vater wurde zu Zwangsarbeit im dortigen Heereskraftfahrpark (HKP) unter dem Kommando von Major Plagge eingesetzt. Plagge schützte seine Arbeiter soweit wie möglich vor Diskriminierungen, rettete viele von ihnen mit ihren Familien kurz vor der Liquidierung des Ghettos im September 1943 und brachte sie in einem bei der SS eigens für die HKP-Arbeiter und deren Familien durchgesetzten Wohnlager unter. Kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee Anfang Juli 1944 warnte er die Lagerbewohner vor der Übernahme des Lagers durch die SS und ermöglichte auf diese Weise über 200 Familien in einem Versteck das Überleben, unter ihnen Pearl und ihre Eltern. 

Nach der Befreiung gelangte die Familie nach Italien, wo Pearl an der Universität von Turin Chemie studierte und das Studium mit ihrer Promotion abschloss. In Turin lernte sie ihren zukünftigen Ehemann, den Medizinstudenten Vovka Gdud (später William/Bill Good) kennen. 1952 emigrierte Familie Esterowitz nach New York, wo Pearl und Bill heirateten, den Namen Good annahmen; dort wurde 1954 ihr erster Sohn geboren. Die kleine Familie zog später mit ihren Kindern Leonard und den Zwillingen Anne und Michael nach West Covina/Kalifornien. Bill eröffnete eine Arztpraxis und Pearl widmete sich der Erziehung ihrer Kinder. 1963 kehrte die Chemikerin in ihr Berufsfeld zurück und arbeitete fünfundzwanzig Jahre lang im Labor des Pomona College in Claremont, California, wo sie Studierende unterrichtete und wichtige wissenschaftliche Arbeit leistete.

Nach dem denkwürdigen Besuch der Familie Good in Vilnius 1999 gelang es Michael Good mit einer Reihe von Unterstützerinnen und Unterstützern, nach einer langen Suche allmählich das Dunkel um den Lebensretter Major Plagge sowie dessen Herkunft aus Darmstadt aufzuklären. Es entstand ein Netzwerk von Holocaust-Überlebenden aus Vilnius und aus Freunden aufzubauen, die bei den Recherchen behilflich waren. Vor allem den Überlebenden des HKP-Lagers selbst mit ihren eindrücklichen Rettungserlebnissen ist es zu verdanken, dass Karl Plagge 2005 von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechter unten den Völkern“ geehrt wurde und dass auch die Stadt Darmstadt seinen Namen seither in Ehren hält. Ohne die Erinnerung Pearl Goods an „Major Plagge“ und sein menschliches Verhalten wäre die Geschichte des Überlebens der Geretteten unbekannt geblieben. 

Die Mitglieder der Geschichtswerkstatt Darmstadt, die seit den Ehrungen Karl Plagges in Jerusalem und Darmstadt 2005 und den nachfolgenden persönlichen Begegnungen mit Familie Good verbunden sind, trauern mit den Angehörigen um Pearl Good. Alle, die ihre liebenswürdige und warme Ausstrahlung kennengelernt haben, werden sie in ehrender Erinnerung behalten.

Darmstadt, November 2022

Pearl 2008 022 Kopie

 Pearl Good anlässlich eines Besuchs der Ausstellung von Sam Bak in der Jüdischen Gemeinde 2008 in Darmstadt